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Navigation ohne Instrumente: die vergessene Kunst

von Lazy Jack

Bis zur Lösung des Längengradproblems war Navigation auf hoher See weit mehr Kunst als Wissenschaft. Dabei ist erstaunlich genaue Navigation ohne Instrumente möglich. Nur wie?

Es soll ja Leute geben, die sich ohne GPS und Google Maps auf ihrem Smartphone nicht mal in ihrer eigenen Stadt zurechtfinden. Ich muss bekennen: auch ich möchte nicht mehr auf die Satellitennavigation verzichten. Damit ist auf hoher See nämlich ein Kinderspiel, was Seefahrern lange Zeit große Probleme bereitete: zu wissen, wo man ist und in welche Richtung man sich bewegt. Dass zumindest ersteres nicht immer einfach ist weiß jeder, der sich wie ich an die Zeiten ohne GPS erinnern kann.

Wenig verwunderlich ist somit, dass die Geschichte der Seefahrt die längste Zeit auch eine Geschichte der Irrfahrt gewesen ist. Nicht von ungefähr hat der berühmteste Seefahrer der Antike der Odyssee ihren Namen gegeben. Gesegelt wird zwar bereits seit vielen tausend Jahren, erste Navigationsinstrumente sind aber erst seit gut eintausend Jahren nachweisbar. So nutzten die Wikinger Sonnenstein und Sonnenkompass, und der Magnetkompass verbreitete sich – aus China kommend – im Hochmittelalter im Mittelmeerraum. Damit konnte zumindest eines der navigatorischen Probleme – in welche Richtung sich das Schiff bewegt – befriedigend gelöst werden.

Navigation ohne Instrumente: Seefahrt als eine Geschichte der Irrfahrt

Magnetkompass: eins der ältesten noch heute gängigen Navigationsinstrumente

Eines der ältesten heute noch gängigen Navigationsinstrumente

Die Positionsbestimmung blieb dagegen noch lange Zeit eine Herausforderung. Erst mit der Erfindung des Jakobsstabes konnte die geographische Breite näherungsweise bestimmt werden – er kam im 15. Jahrhundert allgemein in Gebrauch. Und das noch heute übliche Instrument zur Astronavigation – der Sextant – wurde erst Mitte des 18. Jahrhunderts erfunden. Dafür allerdings gleich zwei Mal: unabhängig voneinander vom englischen Astronomen und Mathematiker John Hadley und dem Optiker und Erfinder Thomas Godfrey in den britischen Kolonien in Amerika. Ungefähr zur selben Zeit wurde ein weiteres Instrument entwickelt, das die genaue Bestimmung des Längengrades ermöglichte: eine ganggenaue Schiffsuhr. Sowohl Sextant als auch Schiffsuhr waren Voraussetzung für das heute noch gängige Standardverfahren der astronomischen Ortsbestimmung, die Höhenmethode nach St. Hilaire. Zwischen der Entwicklung dieser Instrumente und des Verfahrens vergingen allerdings nochmal mehr als hundert Jahre: es stammt erst aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Mindestens bis zur Lösung des Längengradproblems war die Bestimmung von Position und Fahrtrichtung auf hoher See also weit mehr Kunst als Wissenschaft. Wie aber haben sich die Seeleute davor beholfen? Nun, sie fuhren über Jahrtausende überwiegend in Sichtweite der Küste – zumindest im europäischen Raum. Es gab allerdings auch vor langer Zeit bereits bemerkenswerte Langstreckensegler ohne ausgereifte technische Hilfsmittel. So gilt ja mittlerweile als gesichert, dass Wikinger um das Jahr 1000 amerikanisches Festland betraten. Bereits zuvor hatten sie Grönland entdeckt, was geografisch ja ebenfalls zu Nordamerika zählt. Und auch die Polynesier und Mikronesier konnten in den Weiten des Pazifiks erstaunlich zielsicher navigieren, einem Seegebiet mit tausenden kleinen und kleinsten Inseln, die oft mehrere hundert Seemeilen voneinander entfernt sind. Nicht nur dort wird die Kunst der Navigation ohne Instrumente sogar bis in unsere Zeit gepflegt. So berichtet Bernard Moitessier, der in Indochina aufwuchs, in seinem Buch „Der verschenkte Sieg“ von den Fähigkeiten der Taicong, der Navigatoren auf den traditionellen indochinesischen Dschunken, die zumindest in den 1950ern noch ohne Karte und ohne Kompass bis nach Jakarta segelten. Wie sie das schafften? Die Instruktionen eines Taicong geben zumindest schon mal eine Ahnung:

„Halte die Dünung zwei Finger breit schräg von achtern; du wirst dann den Wind stets hinter dem linken Ohr spüren, wenn du nach vorn siehst. Und wenn der Mond eine große und eine kleine Hand breit über dem Horizont steht, oder jener Stern einen Arm breit auf der anderen Seite, falls eine Wolke den Mond füllen sollte, dann Wird das Meer phosphoreszierender und ruhiger; wir sind dann in Lee der Insel (…).“

„Natürliche Navigation“ mit Sternenkompass und Dünung

Es geht in diesen Instruktionen also um Dünung, Wind, Himmelskörper und Aussehen des Meeres. Zu diesen Elementen gesellen sich in der Kunst der Navigation ohne Instrumente dann noch insbesondere die Beobachtung von Wolken und von Vögeln für den Landfall. Fertig ist die „natürliche Navigation“.

Navigation ohne Instrumente: Sterne als Richtungsmarker

„Natürliche Navigation“: Sterne als Wegmarker

Schauen wir uns das Ganze mal genauer an. Am wichtigsten sind die Himmelskörper, also Sonne, Mond und Sterne. Um mit ihnen ohne Hilfsmittel navigieren zu können muss man ein paar Dinge über sie wissen. Nehmen wir die Sterne als Beispiel. Sterne gehen auf und unter wie die Sonne und der Mond und wandern dazwischen am Nachthimmel entlang, wobei ihre Positionen zueinander fixiert sind – deshalb kann man auch Sternbilder wie den Orion identifizieren. Auf der Nordhalbkugel drehen sie sich dabei entgegen dem Uhrzeigersinn um den Himmelsnordpol, wo sich der unbewegliche Nordstern befindet. Auf der Südhalbkugel gibt es keinen solchen Stern, der den Himmelssüdpol markiert. Man kann ihn allerdings mit Hilfe eines Sternbildes – des Kreuzes des Südens – finden. Da die Sterne jeden Abend vier Minuten früher aufgehen als am Vorabend, sind im Laufe des Jahres verschiedene Sterne und Sternbilder sichtbar. Am wichtigsten ist jedoch, dass ein Stern, vom selben Beobachtungspunkt aus gesehen, immer an jeweils gleichen Punkten am Horizont erscheint und verschwindet. Somit bildet der Horizont gewissermaßen einen Sternenkompass.

In den niedrigen Breiten Polynesiens und Mikronesiens, wo die „natürliche“ Navigation ohne Instrumente weit verbreitet war, gehen die Sterne zudem steil auf, so dass sie länger als Richtungsmarker genutzt werden können als in höheren Breiten. Ein Beispiel: der Stern Kapella, in Polynesien bekannt unter dem Namen Hokulei, geht im Nordosten auf und im Nordwesten unter. Wenn jetzt eine Insel im Nordosten liegt, liegt sie also in Richtung „aufgehender Hokulei“. Polynesische Navigatoren können also den Weg von einer Insel zu einer anderen dadurch finden, dass sie verschiedenen auf- oder untergehenden Sternen oder Sternbildern folgen, die den Weg markieren. Ähnlich kann man mit der Sonne verfahren, wobei die Lage der aufgehenden Sonne mit der Lage des Sternbildes Orion verglichen werden muss, das ziemlich genau im Osten auf- und im Westen untergeht. Es braucht allerdings einiges an Erfahrung, um dann aus dem Stand der Sonne im Tagesverlauf die Himmelsrichtung ableiten zu können.

Das zweitwichtigste Element der „natürlichen“ Navigation ohne Instrumente ist die Dünung. Bernard Moitessier, der noch in einer Zeit ohne GPS lebte und Segelschülern im Mittelmeer in den 1960ern das Fahren ohne Kompass beibrachte, schreibt dazu: „Anstatt einem Kurs von 110° von Porquerolles nach Calvi zu folgen, mußte meine Besatzung so steuern, daß sie die Dünung des Mistrals eben an Steuerbord achtern behielten.“ Insbesondere dort, wo es eine vorherrschende Windrichtung gibt, ist die Dünung als Richtungsmarker hilfreich. Allerdings ist es nicht immer einfach, Dünung und Windsee voneinander zu unterscheiden.

Sternenkompass und Dünung eignen sich gut für die grobe Richtungsbestimmung. Für den Landfall braucht es aber weitere Methoden. Eine einzelne, stationäre Wolke am Horizont, oder besser noch eine unbewegliche Wolke, während andere Wolken weiterziehen, deutet auf Land hin. Außerdem gibt es Seevögel, die dreißig bis fünfzig Seemeilen aufs Meer hinaus fliegen, und abends zu ihren Nistplätzen an Land zurückkehren. Man muss also abends nur der Richtung dieser Vögel folgen, um Land zu finden. Außerdem kann die Farbe des Meeres auf Land hindeuten. Bei Sandboden um eine Insel verändert sich die Farbe beispielsweise von tiefblau über tiefem Wasser zu blaugrün und schließlich grün über flachem Wasser.

Eine in der westlichen Welt lange vergessene Kunst

In der westlichen Welt war die Navigation ohne Instrumente lange eine vergessene Kunst. Neben Moitessier war David Lewis einer der ersten, der sie in den 1960ern wiederentdeckte. Er segelte unter Anwendung polynesischer Navigationsmethoden 2200 Seemeilen von Tahiti nach Neuseeland und veröffentlichte 1972 dazu sein Buch „We, the Navigators“. 1973 wurde auf Hawaii die Polynesian Voyaging Society gegründet mit dem Ziel, polynesische Navigation und Seemannschaft wiederaufleben zu lassen. Ein polynesisches Doppelkanu wurde gebaut, auf dem 1976 eine erste Reise von Hawaii nach Tahiti unternommen wurde. Weitere Reisen und ein weiteres Doppelkanu folgten. Marvin Creamer, ein amerikanischer College-Professor, umrundete 1982-84 in einer Goderich 35 den Globus ohne irgendwelche Navigationsinstrumente. Creamer trug nicht einmal eine Armbanduhr, stattdessen gab es nur ein Stundenglas an Bord. Leider hat er über seine Reise kein Buch geschrieben. 1992 schließlich überquert Bobby Schenk ohne moderne Navigationsinstrumente den Atlantik und trifft punktgenau Barbados. Sein Buch „Transatlantik in die Sonne“ erzählt die Geschichte dazu.

Ich glaube nicht, dass ich für so lange Strecken jemals dem Beispiel dieser Segler folgen werde. Aber die Faszination des Ganzen kann ich schon nachfühlen. In den Worten Moitessiers: „Im Anfang verstanden die Schüler nicht meine Hartnäckigkeit, mit der ich den Kompaß, diesen Gott des Abendlandes, ausschaltete. Aber dafür begannen sie bald, den Himmel und die See mit dem Schiff Kontakt nehmen zu sehen. Und als dann das blauende Land am Horizont emporstieg, so wie es einst die alten Seefahrer erblickten, von geheimnisvollen Nimbus umgeben, spürten einige von ihnen doch, daß unsere strenge Welt der Technik ein Tor für die Götter offenhalten sollte, die unsere moderne Welt mit aller Kraft auszuschließen sucht.“

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