Revierführer sind ein vertrauter Anblick an Bord. Aber seit wann gibt es sie eigentlich? Die Antwort auf diese Frage ist nicht das einzig erstaunliche an der Geschichte der Revierführer.
Revierführer wie beispielsweise der Reeds Nautical Almanac sind eine Selbstverständlichkeit an Bord und gehören zu den vielen Dingen, über die man nicht weiter nachdenkt. Außer man braucht sie – und sie sind nicht da. Denn dann bleiben möglicherweise Fragen unbeantwortet wie: hat der Hafen, den ich ansteuere, genügend Wassertiefe für mein Schiff?
Seefahrer haben sich zu allen Zeiten solche Fragen gestellt. Und über Jahrtausende erhielten sie Antworten in Form von mündlicher Überlieferung, die von einer Seefahrergeneration an die nächste weitergegeben wurde. Oder sie machten ihre eigenen Erfahrungen.
Die Geschichte der Revierführer beginnt im Mittelmeerraum
Es gab aber bereits in der Antike auch andere Antworten: die Peripli (Singular: Periplus), Seehandbücher für nahezu jedes Seegebiet im Mittelmeerraum. Sie enthielten im Wesentlichen Angaben, die man auch in heutigen Revierführern finden würde: eine Liste von Häfen und Ankerplätzen, auffällige geographische Gegebenheiten wie Flussmündungen und Landmarken, sowie die ungefähre Entfernung zueinander. Außerdem die Anführung gefährlicher Meeresgebiete. Mit ihnen beginnt die Geschichte der Revierführer.
Eines der ältesten erhaltenen Peripli ist die „Küstenbeschreibung des Meeres der bewohnten Teile von Europa, Asien und Afrika“. Der Text, als dessen Autor Skylax von Karyanda genannt wird, stammt wohl aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Nach einhelliger Meinung der Forschung ist die Autorschaft allerdings ein Schwindel. Ich vermute, um den Ruhm eines in der Antike bekannten Seefahrers auszunutzen. Denn Skylax wird von Herodot in seinen berühmten Historien erwähnt. Herodot erzählt dort, dass Skylax vom persischen Großkönig Dareios I. auf Entdeckungsreise geschickt wurde. Sein Auftrag war, den Indus zu erkunden, wobei ihn seine Entdeckungsfahrt auch weite Strecken übers Meer führte: von der Mündung des Indus bis zum Arabischen Meerbusen, wo er die arabische Halbinsel bis ins Rote Meer umsegelte und von dort weiter nach Ägypten bis zur Landenge von Suez fuhr. Angeblich fasste Skylax die Ergebnisse seiner Reise in einem Periplus zusammen, der von Herodot benutzt wurde. Dieses Werk ist allerdings heute verloren.
Revierführer in der Antike: mehr als nur nautische Beschreibungen
In der Antike war ein Periplus übrigens nicht immer (nur) ein Revierführer. Es konnte sich auch um einen Reisebericht handeln, der unter anderem geographische Beschreibungen und Entfernungen enthält. Zu solchen Peripli zählt zum Beispiel der von Hanno dem Seefahrer (um 500 vor Christus) oder die sagenhafte Schiffsreise des Pytheas von Massilia (um 320 vor Christus). Dazu vielleicht an anderer Stelle mehr – in einem eigenen Beitrag.
Ein bemerkenswerter Periplus aus römischer Zeit ist das aus dem 1. Jahrhundert nach Christus stammende Werk „Küstenbefahrung des Roten Meeres“. Es beschreibt Häfen, Handelsbedingungen und Warenströme an der nordostafrikanischen, arabischen und indischen Küste. Der Inhalt geht dabei weit über nautische Beschreibungen hinaus: Hafen für Hafen werden die wichtigsten Umschlaggüter aufgelistet sowie Chancen und Risiken des lokalen Warenhandels bewertet. Insbesondere werden Ratschläge zu Menge, Qualität und Ausstattung der Güter, die sich in den verschiedenen Häfen absetzen ließen, gegeben. Gefragte Waren aus der römischen Welt waren demnach beispielsweise Lebensmittel, Metallwaren, Textilien, Schmuck und Pferde. Zurück in römisches Gebiet wurden Gewürze, Seide oder Edelsteine gebracht.
Revierführer existieren also seit gut 2500 Jahren. Sie waren allerdings in der Antike nur wenigen zugänglich. Denn einerseits waren die meisten Seefahrer damals Analphabeten. Andererseits verschaffte das darin enthaltene Wissen dem Besitzer einen Vorteil im Kampf um Macht und Reichtum – es war Herrschaftswissen. Und als solches wurde es sorgsam gehütet.
Tausend Jahre dokumentarische Ebbe in der Geschichte der Revierführer
Das änderte sich zunächst auch nicht in späteren Zeiten. Wobei die nächsten Revierführer, von denen wir wissen, um 1300 entstanden: italienische Seeleute benutzten Bücher, in denen die Lage der Häfen beschrieben wurde. Für die rund tausend Jahre zwischen den letzten römischen Peripli und diesen sogenannten Portolanen herrscht für die Geschichte der Revierführer nämlich dokumentarische Ebbe. Inhaltlich knüpfen die italienischen Hafenbücher dabei an ihre antiken Vorgänger an: sie enthielten nautische Informationen zu Landmarken, Leuchttürmen, Strömungen und Hafenverhältnissen. Graphisch wurde das Ganze in Portolankarten dargestellt. Eine der berühmtesten ist die Karte von Pisa, die von einem genuesischen Kartographen erstellt wurde, und die sich im Besitz einer pisaner Familie befand. Sie wird heute in der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrt.

Portolankarte
Vermutlich wurden diese Portolane ursprünglich geheim gehalten. Ähnliche niedergeschriebene Segelanweisungen entstanden jedoch im 15. Jahrhundert auch in anderen europäischen Gegenden. Im Französischen werden sie als routier bezeichnet, spanisch derrota, portugiesisch roteiro, englisch rutter, deutsch Seebuch, niederländisch Leeskart. Um 1470 erschien das sogenannte niederdeutsche Seebuch, das die ältesten erhaltenen nordwesteuropäischen Segelanweisungen enthält. Um 1500 wurde das erste gedruckte Seebuch veröffentlicht, der Grand Routier des Franzosen Pierre Garcie. Der wurde wenige Jahrzehnte später als Rutter of the Sea ins Englische übersetzt, und gilt als das bekannteste Werk seiner Art. Neben Küstenverlauf, Landmarken, Leuchtfeuer, Engstellen, Hafeneinfahrten und Klippen enthielten diese Segelanweisungen auch bereits Abweichungstabellen und Gezeitenkalender.
Wie aber sahen diese Segelanweisungen eigentlich aus? Ein Auszug aus dem niederdeutschen Seebuch kann einen Eindruck vermitteln:
„Wenn du vom Zwin zu den Riffen Jütlands segeln willst, musst du dich 27 Faden von Land entfernen und nach Nordnordost fahren… und diese Richtung beibehalten, bis du nur noch 40 Faden Tiefe hast; fahre dann nach Nordosten, bis du Jütland siehst… Sobald du die Riffe von Skagen passiert hast, wirf das Lot aus, bis du nur noch 10 Faden Tiefe hast… Schließlich wirst du vor der Stadt Rostock ankommen.“
Neben den Beschreibungen wurden auch die kartographischen Darstellungen ständig erweitert und verbessert. Während die ersten Portolankarten noch recht grob aussehen, erfanden die Kartographen besondere Zeichen zur Darstellung von Felsen, sandigen Ufern, Ankerplätzen etc. In die Karten wurden auch seit dem 15. Jahrhundert Hafenansichten integriert. Bald waren es vor allem die Niederländer, die die Kunst der Kartographie wesentlich voranbrachten. Ein Seeatlas von Lucas Waghenaer, der Ende des 16. Jahrhunderts veröffentlicht und anschließend in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, setzte dabei für lange Zeit einen neuen Standard.
Um 1500: Revierführer beginnen Allgemeingut zu werden
Spätestens um 1500 also, mit den gedruckten Veröffentlichungen, beginnen die Revierführer Allgemeingut zu werden. Und das, obwohl nautisches Wissen in den beiden damals führenden Seefahrernationen – Portugal und Spanien – als Staatsgeheimnis betrachtet wurde, dessen Weitergabe mit dem Tode bestraft wurde. Was aber nicht verhindern konnte, dass sich im 16. Jahrhundert immer genauere Seekarten des Atlantiks, seiner nördlichen Randmeere und des Indischen Ozeans in ganz Europa verbreiteten.

Alte Seekarte
Bis ins 17. Jahrhundert behielten übrigens die holländischen Seekarten und Navigations-handbücher eine herausragende Stellung: sie galten als zuverlässige nautische Publikationen, die auch von den Seeleuten der aufstrebenden Seemächte England und Frankreich genutzt wurden. In diesen beiden Ländern wurden mit der Seekartenherstellung dann aber im 18. Jahrhundert staatliche Ämter betraut. 1720 wurde in Frankreich das Dépot général des cartes et plans, journaux et mémoires concernant la navigation geschaffen. 1795 schließlich das Hydrographische Amt der Royal Navy, das bald den Ruf erlangte, die genauesten Karten herzustellen. Bis heute setzen die Admiralty Charts gewissermaßen den Goldstandard der nautischen Karten.
Ähnliche staatliche Ämter wurden auch in vielen anderen Ländern ins Leben gerufen – in Deutschland etwa 1868 die Norddeutsche Seewarte, auf das sich das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) zurückführt. Solche Ämter geben bis heute Segelanweisungen und Seehandbücher heraus – das BSH beispielsweise das Ostsee-Handbuch. Dabei handelt es sich um die professionelle Version eines Revierführers.
Womit wir in der jüngsten Geschichte der Revierführer angelangt wären. Und gewissermaßen wieder beim Reeds Nautical Almanac, der zu Beginn erwähnt wurde. Denn der wurde 1932 erstmals veröffentlicht und gehört dadurch unter den aktuellen Revierführern zweifellos zu denen, die auf die längste eigene Geschichte zurückblicken können – wovon wir aber an anderer Stelle erzählen.